ESSAY


Anette Jäger
Arbeiten Künstler_innen nachts, so finden sie sich in einer besonderen Arbeitssituation wieder: Das abwesende Tageslicht muss durch künstliches Licht ersetzt werden. Farben, Formen und mitunter auch das Raumempfinden verändern sich hierdurch. Schlaflosigkeit ist manchmal ein Grund für die künstlerische Nachtarbeit – jedoch nicht der einzige. Die stille Zeit der Nacht, ohne die Ablenkungen des Tages, kann die Konzentration fördern. Die veränderte (Licht-)Situation ermöglicht es, andere Perspektiven und Sichtachsen auf vermeintlich Bekanntes einzunehmen und sich neuen Gedanken zu öffnen.
Schon seit ihrer Studienzeit arbeitet Anette Jäger nachts. Für ihre Fotos baut sie Modelle aus transparenten, farbigen Folien in einen kleinen Leuchtkasten. Diese Folien schneidet, biegt und perforiert sie von Hand und erschafft in dem erleuchteten Kasten einen kleinen Bühnenraum. Dafür ist die Abwesenheit von störendem Tageslicht wichtig: Nur das künstliche Licht des Leuchtkastens erhellt die hintereinanderliegenden Folien, strukturiert sie und schafft Räumlichkeit. „Wenn etwas beleuchtet ist, entstehen Überraschungen, die man so vorab gar nicht erwartet hat“, sagt Anette Jäger. Die geschaffenen Situationen fotografiert sie mit einer Digitalkamera und bearbeitet die Fotodateien im Anschluss am Computer. Sie werden dabei mitunter stark verändert und verfremdet. Anette Jäger fügt den fotografierten Flächen Farben hinzu – so entstehen strahlende, farbenfrohe Bilder. Für die Serien der „Raumwelten in schwarz-weiß“ tritt die Farbe zugunsten der Räumlichkeit in den Hintergrund, allerdings sind auch diese Serien zurückhaltend farbig. Alle Fotografien sind jedoch solarisiert – dadurch erscheinen die beleuchteten Bereiche verfremdet; mitunter werden die belichteten Bereiche ins Gegenteil verkehrt. Die dadurch entstandenen Bilder weisen eine erhöhte Körnigkeit auf, die Kanten der transparenten Folien werden weicher.

Anette Jäger verfolgt das Ziel, das Ausgangsfoto durch Verzerrungen und Farbsteuerungen so stark zu verändern, dass die ursprüngliche Situation nicht mehr rekonstruiert werden kann: „Man darf den Raum nicht verstehen.“ Die Bildbearbeitung von Anette Jäger am Computer schließt damit an ein Postulat früher Fotokunst der 1920er Jahre an. Schon Alexander Rodtschenko erteilte mit seinen Fotografien der Darstellung des Raumes im Sinn der herkömmlichen Zentralperspektive eine radikale Absage. Vielmehr war er überzeugt, dass die Fotografie neue Sichtweisen ermögliche und die räumliche Vorstellungskraft erweitere. [1] Anette Jäger begreift die Fotografien der gebauten Modelle lediglich als einen Zwischenschritt zu den eigentlichen Fotos. Sie löst sich damit bewusst von der längst überholten Vorstellung von der Fotografie als Spiegelbild der Welt – und damit auch von der damit verbundenen Forderung an die Fotografie, ‚abbildungstreu‘ zu sein. Die Fotografien bilden nicht mehr Gegenstände ab, sondern können auch abstrakte Begriffe thematisieren oder Bilder aus sich selbst erzeugen – also aus einer immanenten Eigendynamik – heraus. [2] Dies stellt sie in die geistige Nähe zur generativen Fotografie: Das Foto wird erst durch den Rechner erschaffen oder finalisiert. Längst begreifen sich heutige Fotograf_innen als Künstler_innen eines Mediums, das nicht auf Strömungen anderer Medien, wie etwa die Malerei oder die Bildhauerei, zurückgreift. Vielmehr hat sich über die lange Zeit der Fotografiegeschichte eine eigene Theorie- und Bildgeschichte des Mediums entwickelt, in die sich zeitgenössische, künstlerische Fotografien einschreiben. Die Digitalisierung ist dafür nur ein weiterer Entwicklungsschritt: Für Fotograf_innen stellt der Umgang mit Bildbearbeitungsprogrammen eine weitere kreative Aneignung im Sinne des eigenen Mediums dar: „Durch den Computer und die digitale Bildbearbeitung war einfach mehr möglich, was in der Dunkelkammer immer wieder auch mal schiefging“, sagt Anette Jäger.

Von zentraler Bedeutung ist für Anette Jäger allerdings, die Ausgangsmotive – in diesem Fall die Modelle – selbst von Hand zu bauen. Für die Arbeit „Expansion“ etwa schnitt sie Plastikflaschen auf, schliff die Kanten und stellte sie zueinander. Es war ihr wichtig, eine Balance zwischen perfekt geschliffenen Kanten und einigen imperfekten, unrunden Stellen zu schaffen. Auf dem finalen Foto entdeckt man bei genauerem Hinsehen einen minimalen Riss oder gar winzige Dellen in den scheinbar perfekten Kreisen. Auf diese Spuren des Handgemachten in ihren digital bearbeiten Fotografien legt die Künstlerin besonderen Wert. Die auf den ersten Blick perfekt anmutenden digitalen Bilder offenbaren damit ihren Ursprung in einem handwerklichen Herstellungsprozess, der eine menschliche, nicht-berechenbare und damit „imperfekte“ Handschrift trägt. Hier markiert Anette Jäger ihre eigenmächtige Nutzung der digitalen Medien.

Für ihre „Raumwelten in schwarz-weiß“ reduziert Anette Jäger die Farben zugunsten des Raumes: Die Flächen und die Räumlichkeit sind somit das beherrschende Element der Serien. Es entstehen Bilder, die rational teilweise nicht verstehbar oder räumlich schwer einzuordnen sind: Linien und Flächen werden hier zu abstrakten konstruktivistischen Elementen und Sichtachsen. So aufgenommene oder bearbeitete Fotografien können damit zu neuen Sichtweisen verhelfen. Schon der Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy attestierte der Fotografie „die Fähigkeit der Strukturdifferenzierung, also des Erkennens und Verstehens“ zu trainieren. [3]

Bei den „Farbfotografien abstrakter Raumwelten“ verstärkt Anette Jäger jedoch die Farbigkeit der ursprünglichen Fotografien im digitalen Bearbeitungsprozess. Hier wird der Raum zugunsten von Farbe und Flächigkeit zurückgenommen. Aus der Tiefenwirkung und den Schatten werden nun Flächen, Farbe und Licht: Die räumliche Situation der Ausgangsfotografien wird damit beinahe malerisch.

Dass Anette Jäger nun neuerdings ihre großformatigen Fotografien abschließend übermalt, erscheint nur als konsequent: Dem fotografischen Raum wird nun eine weitere Ebene hinzugefügt. Dies muss keine Abwendung vom Medium bedeuten, sondern hinterfragt erneut tradierte Annahmen der Fotografie. [4]
Lange erachtete man die stofflichen Bedingungen der Fotografie als vernachlässigbar. In den 1980er Jahren gab es die Vorstellung, dass sich das Medium durch Unsichtbarkeit auszeichne und sprach in diesem Zusammenhang von der „fotografischen Transparenz“. Durch das Übermalen der Fotografien mit dem Pinsel rückt nun der Bildträger und das Bildmaterial in den Fokus und thematisiert somit wiederum die Rahmenbedingungen der Fotografie.

Fotografien stellen auch immer eine Auseinandersetzung mit den eigenen technischen Möglichkeiten dar. In der zeitgenössischen Fotografie, die sich mittlerweile als eine Kunstform etablierte und somit in Konkurrenz zu bestehenden Künsten steht, werden nun auch tradierte Vorstellungen von Fotografie in Frage gestellt.
Nachts zeigt sich die uns vertraute Welt in einem anderen Licht. Alltägliches erscheint mitunter als fremd oder ungewohnt. Gewöhnliches Material (Plastik) und Alltagsdinge (Plastikflaschen) sind in Anette Jägers Fotografien Ausgangsmaterial für abstrakte (Farb-)Räume, die uns einladen, uns von unseren bekannten Sichtweisen zu lösen.

Text: Su-Ran Sichling


[1] Vgl. Birgit Jooss: Das „Neue Sehen“. Extreme Perspektiven in der Fotografie, in: Salmen, Brigitte (Hrsg.): Perspektiven: Blicke, Durchblicke, Ausblicke in Natur und Leben, in Kunst und Volkskunst.
Murnau 2000.
[2] Vgl. Gottfried Jäger: Generative Fotografie. Versuch einer Einordnung, 2005. https://lr-develop.de/gottfried-jaeger/pdfs/generative-f-einordng-bildwissensch-2005.pdf (letzter Zugriff: 27.9.2022)
[3] Vgl. Gottfried Jäger: Generative Fotografie. Versuch einer Einordnung, 2005. https://lr-develop.de/gottfried-jaeger/pdfs/generative-f-einordng-bildwissensch-2005.pdf (letzter Zugriff: 27.9.2022)
[4] Vgl. Kathrin Schönegg: Zurückkommend auf die Fotografie. Zum Verhältnis von Fotografie und Malerei im postfotografischen Zeitalter, in: Leber, Christina und DZ BANK Kunstsammlung (Hrsg.): Fotofinish. Siegeszug der Fotografie als künstlerische Gattung. Köln, 2018.


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